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AISHE ON THE ARTS

Der Berlin Blog von Aishe Malekshahi

The Kindness of Strangers

The Kindness of Strangers

© Per Andersen

Die dänische Regisseurin Lone Scherfig und das Prinzip Hoffnung

 

Es ist Nacht, die Kamera gleitet durch die Schlafzimmer einer Familie. Inmitten dieser Nacht steht die Frau auf, geht zu ihren beiden Söhnen, weckt sie sanft, mahnt sie zur Eile. Es ist der unaufgeregte Beginn eines Dramas. Die Geschichte einer Flucht, getarnt als ein Ausflug in die große Stadt. New York als Sinnbild für Kultur, aber auch ein Sinnbild dafür, dass man hier anonym bleiben kann – solange man keine Strafzettel für das Auto kassiert.

Clara, so heißt die junge Mutter, spielt nicht lange ihren Kindern vor, dass es ihr nur um Bildung geht. Dass wenigstens einmal die Söhne Antony und Jude eine Bibliothek von innen sehen oder klassische Musik hören. Die Kinder kennen diese Welt nicht, sie ahnen nur, dass etwas Neues beginnt. Clara ist ohne Plan aufgebrochen, auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann, einem Polizisten. Ausgerechnet bei seinem Vater sucht  sie Unterstützung, doch dieser weist sie ab. Es beginnt eine Odyssee durch die Stadt, die fern von jedem Glamour ist, doch voll von Menschen, die scheitern, die hoffen, die verlieren.

Die dänische Regisseurin Lone Scherfig entwickelt in “The Kindness of Strangers“ einen Plot, der uns mit unterschiedlichen Schicksalen konfrontiert. Da ist Jeff, der einen Job nach dem anderen verliert und aus Wut einen neuen Bürostuhl durch das Fabrikfenster wirft. Der Stuhl wird von Claras jüngstem Sohn gefunden, doch er darf ihn nicht behalten. Was soll man mit einem Bürostuhl anfangen, wenn man noch kein Dach über dem Kopf hat?

Clara gespielt von Zoe Kazan, beginnt zu stehlen. Kleidung, damit die Kinder nicht ärmlich wirken. Auch sie wandelt sich, von der kleinen Vorstadt-Hausfrau zu einer stilvollen New Yorkerin. Sie klaut elegante Kleider, Prada-Schuhe und eine pinkfarbene Clutch, in der sie die Häppchen auf einem Empfang verschwinden lässt. Antony und Jude, die nicht wissen, was sie essen, erklärt sie, es seien Petit Fours und die kleinen schwarzen Kugeln, Kaviar. Bildungsmission erfüllt! Langsam nimmt der Film Fahrt auf, etwas Unheilvolles droht. Menschen begegnen sich, ahnen aber noch nicht, dass ihre Schicksale miteinander verbunden werden. Krankenschwester Alice, die oft 12 Stunden-Schichten übernimmt, weil ohnehin keiner auf sie zuhause wartet. New York ist in doppelter Hinsicht kalt, es ist Winter. Sozialarbeiter suchen die Straßen nach Obdachlosen ab und retten Jeff vor dem Kältetod. Alice kümmert sich um ihn in der Klinik, bietet ihm einen Job in der Kirche an. Denn neben ihrem aufreibenden Krankenhausjob, leitet sie selbstlos in dieser Kirche eine Selbsthilfegruppe, Anlaufstelle für all die Einsamen. Auch der Anwalt John Peter und sein früherer Mandant Marc sitzen in dieser Runde.

Ihnen allen begegnet Clara. Sie und die Kinder geraten in die soziale Abwärtsspirale, obdachlos, hungrig, frierend. Auch sie landen in der Suppenküche von Alice, völlig überfordert von ihrem Kampf ums Überleben in Big Apple. Sie hinterlassen Spuren, eine davon  ist verhängnisvoll. Die Strafzettel verraten ihren Fluchtort, ihr Mann spürt sie und die Söhne in einem China-Restaurant auf. Droht ihnen unverhohlen, dass er überall Beziehungen habe. Diesmal sind es die Kinder, die die Mutter von dem Vater fortlocken und ihre Flucht setzt sich fort.

Lone Scherfig hat, wie schon in „Italienisch für Anfänger“, hier das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Lange habe sie die unterschiedlichsten Geschichten gedanklich immer wieder durchgespielt, um sie am Ende zu einem großen Filmstoff zu verweben. Scherfig spielt mit den Genres, bewegt sich souverän zwischen Sozialdrama, Thriller und sogar Komödie. Ein altes, russisches Restaurant wird zu einem neuen Zufluchtsort. Für Stammgast Alice, für Marc, aber auch für Clara. Hier sitzt jeder Dialog, auch jeder Witz zwischen dem Restaurantbesitzer Timofey, gespielt von dem großartigen Bill Nighy, mit seinen Schützlingen. Ein Ensemblefilm at his best!

Lange bleibt offen, welchen Ausgang „The Kindness of Strangers“ nehmen wird und es ist eben diese Güte von Fremden, die geradezu märchenhaft erscheint. Lone Scherfig setzt auf Solidarität, Hilfsbereitschaft und Empathie für die Schwächsten in der Gesellschaft. Sie zeigt eindringlich, wie aktuell der alte 68er Spruch „das Private ist politisch“, heute noch ist. Wer die Botschaft hört bzw. sieht, geht beglückt aus dem Kino. Dieter Kosslick hat mit diesem Eröffnungsfilm ein starkes Zeichen gesetzt.

2 comments

  1. Botho von Senger says:

    Liebe Aishe,
    der Film wurde auf SPON so verrissen, dass es gar keine Lust macht sich den anzusehen. Aber Du beschreibst es so,
    dass man doch neugierig wird.
    xx
    Tt

    1. Aishe Malekshahi says:

      Lieber Toto,
      lass Dich davon nicht abschrecken. Die Meinungen gehen so oft auseinander, gerade bei dieser Berlinale!
      Liebe Grüße
      Aishe

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