© Courtesy: Yorkshire Sculpture Park, die Künstlerin & VG Bild-Kunst, Bonn 2018
AND BERLIN WILL ALWAYS NEED YOU
Kunst Handwerk Konzept Made in Berlin“
Seide, Hanf, Wolle, Bast, Kork, Perlen, Holz, Plastik, Kaktusfasern, Porzellan, Stroh.
Materialien, die durch die Hände von 17 Künstler*innen gingen: Wolle wurde eingefärbt, verhäkelt, verflochten, verknüpft und verwoben. Perlen aneinandergereiht, Stoffe vernäht und Teppiche auseinandergeschnitten. Filigrane, poetische Installationen und Skulpturen verwandeln die Räume des Martin-Gropius Baus, spielen mit dem Bestehenden und öffnen den Blick für Vergangenes.
Mit der Ausstellung „And Berlin will always need you Kunst Handwerk Konzept Made in Berlin“ erinnert Direktorin Stephanie Rosenthal an die wechselvolle Geschichte des Gebäudes: Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Martin-Gropius-Bau als Kunstgewerbemuseum mit einer angeschlossenen Schule für Kunsthandwerk eröffnet. Nach dem Ersten Weltkrieg zogen hier das Museum für Vor- und Frühgeschichte, sowie die Ostasiatische Kunstsammlung ein. Im Nachbargebäude fand die Bibliothek des Kunstgewerbe-Museums ihren Platz. Doch 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, bezog die Gestapo die Räume der Bibliothek und ihr Bestand kam im Lichthof des Martin-Gropius Baus unter.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf gewinnen die Kunstwerke eine weitere Dimension, denn sie alle setzen sich mit dem Erbe des Hauses auseinander. Die Künstler arbeiten wie Spurensicherer in einem Kriminalfilm: sichern die Geschichte des Ortes, verknüpfen ihre Objekte mit früheren Beständen, zitieren eigene und fremde (Familien-) Geschichten, verbinden das Berlin von heute mit dem Berlin des 19. und 20. Jahrhunderts samt aller Zäsuren wie Kolonialismus, Weltkriege, Nationalsozialismus und den Folgen der Globalisierung. Kein Objekt ist hier nur ästhetisch, nur poetisch, nur Form, Farbe und Material.
Chiharu Shiota im Lichthof des Martin-Gropius-Baus © Aishe Malekshahi
Der in Berlin lebenden japanischen Künstlerin Chiharu Shiota gelingt im Lichthof mit ihrer Installation „Beyond Memory“ ein spektakulärer Auftakt. Ein überdimensioniertes, filigranes, weißes Netz schwebt über den Besuchern. Einzelne Buch- und Manuskriptseiten haben sich in den Fäden verheddert. Buchseiten aus historischen Reiseführern, frühere Zeichnungen vom Kunstgewerbemuseum. So erweist Chiharu Shiota dem Martin-Gropius-Bau ihre Referenz, eröffnet den Diskurs um den Schauplatz ihrer Wahlheimat Berlin. Und das ist ganz im Sinne der Kuratorinnen Natasha Ginwala und Julienne Lorz, denn der ellenlange Ausstellungstitel ist Programm!
Mit dem Songtext „And Berlin will always need you“ verweisen die Kuratorinnen auf die amerikanische Malerin, Objekt- und Videokünstlerin Dorothy Iannone, die das Lied vor langer Zeit für eine Freundin komponierte und hier mit ihrer farbenfrohen, psychodelisch-erotischen Arbeit „Vive la Difference“ präsent ist.
„Kunst Handwerk Konzept“ ist die Einladung an alle Künstler, sich mit dem Ort auseinanderzusetzen an dem sie ausstellen. Und last but not least „Made in Berlin“ verweist auf die vitale, vielfältige, internationale Kunstszene. Nicht nur Start-Up Unternehmen, sondern gerade die kreative, attraktive Künstler- und Galerienszene der Hauptstadt waren und sind der Motor, der diese Stadt weniger piefig erscheinen lassen.
Die Kuratorinnen haben gemeinsam mit Stephanie Rosenthal das Ausstellungskonzept entwickelt und 17 Künstler – aus elf verschiedenen „Geburtsländern“ – für das Projekt gewonnen.
© Foto: Nick Ash, Courtesy: die Künstlerin & Gallery Kurima-zutto, Mexico City
Für ihren Raum hat die Portugiesin Leonor Antunes einen Korkboden auslegen lassen, auf dem sich schwarze abstrakte Muster abzeichnen. Von der Saal-Decke lässt die Künstlerin skulpturale, schmale Korb-Objekte baumeln. „Franka (#4)“ heißt Antunes Werk und ist eine Verbeugung vor der italienischen Architektin und Designerin Franca Helg. Wie diese hat auch Leonor Antunes ein großes Gespür für die Inszenierung von Räumen, für die Handwerkskunst und ihre meisterhafte Ausführung.
© Die Künstlerin Nevin Aladağ vor „Social Fabric #1“ © Aishe Malekshahi
Einen Raum weiter hat sich Nevin Aladağ mit ihren Teppich-Gemälden einquartiert. Die Bildhauerin und Soundkünstlerin sammelt seit Jahren Orientteppiche, Kelims, Teppichböden und lädt mit ihrer Arbeit „Social Fabric #1“ Besucher dazu ein, sich mit der Herkunft der Ware, mit Techniken und Produktionen zu beschäftigen. Aladağ seziert die Teppiche, zerstört sie und kreiert neue Formen und Muster, die sie zu Teppich-Collagen zusammensetzt. Natürlich hat ihr Faible für dieses Kunsthandwerk auch etwas mit ihrer türkischen Herkunft zu tun, erzählt Nevin Aladağ. Sie kam als Baby mit ihren Eltern und dem älteren Bruder nach Deutschland und erzählt, wie die Eltern sich zunächst „orientalisch“ eingerichtet hatten. Doch mit der Zeit passten sie sich dem westlichen Einrichtungsstil an und überließen einige ihrer Teppiche der Tochter. Aladağ’s „Social Fabrics“ hinterfragen in ihrer abstrakten Form kulturelle Identitäten, Traditionen, Wege der Migration und Lebensstile. Deutlich sichtbar in diesem Raum, denn hier treten Aladağs Teppich-Collagen in eine eigenwillige Wechselwirkung mit den floralen Tapetenmustern an der Wand.
„Brukman Suits (10 Suits with Parallel Stories)“ © Foto: Fotoarchiv Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Courtesy: die Künstler*innen & VG Bild-Kunst, Bonn 2019
An einer Kleiderstange quer durch den Raum hängen dicht an dicht Herrenanzüge. Dunkle Stoffe, klassisch, elegante Ware aus Argentinien. Doch die Applikationen auf diesen edlen Anzügen irritieren: kleine Figuren, Wege und Zitate sind zu erkennen. Mit ihrer Installation erinnern Alice Creischer und Andreas Siekmann an die Berliner Textilindustrie des 19. Jahrhunderts und verweisen auf heutige Arbeitsbedingungen in unserer globalisierten Welt. Sie sind Chronisten einer unglaublichen Wirtschaftsgeschichte. Anfang der 2000er Jahre kämpften Arbeiter der argentinischen Textilfabrik Brukmann gegen Ausbeutung und Lohndumping. An den Museumswänden wird ihr Protest dokumentiert: Eine Näherin beschreibt, wie ihr Wochenlohn von 100 Pesos auf 2 Pesos gesenkt wurde und fragt, wie soll man davon leben, geschweige denn den Bus bezahlen? Die Proteste der Textilarbeiter waren so erfolgreich, dass sie heute die Fabrik selbst führen und weiterhin Herrenanzüge produzieren.
© Courtesy: die Künstlerin & VG Bild-Kunst, Bonn 2019
Auch die Arbeiten von Antje Majewski und Olivier Guesselé-Garai verfolgen eine historische Spur, die diesmal von Afrika direkt nach Berlin führt. Sie zeigen einen Film, der von der Geschichte eines mit Perlen reich verzierten Throns aus Kamerun berichtet. Ein Geschenk des Sultans Njoya an Kaiser Wilhelm II. und ein Lehrstück über Machtverhältnisse und Missverständnisse im Umgang mit kolonialen Objekten. Heute ist der Thron im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und soll später im Humboldt-Forum, im Ethnologischen Museum gezeigt werden. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Künstler einen Artikel der taz http://www.taz.de/!553849/) ausgelegt haben, der die historischen Verstrickungen und die verlogenen Argumentationen der Museen heute offenbart.
Jeder Raum im Martin-Gropius Bau ist eine Entdeckung!
Mit der Ausstellung „And Berlin will always need you Kunst Handwerk Konzept Made in Berlin“ gelingt den Kuratorinnen Natasha Ginwala und Julienne Lorz eine beeindruckende, aktuelle und nachdenkenswerte Schau und ist damit dem Humboldt-Forum um Nasenlängen voraus!
„AND BERLIN WILL ALWAYS NEED YOU
Kunst Handwerk Konzept Made in Berlin“
ist bis zum 16. Juni im Martin Gropius Bau zu sehen!