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AISHE ON THE ARTS

Der Berlin Blog von Aishe Malekshahi

Das Theatertreffen präsentiert „Dionysos Stadt“

Das Theatertreffen präsentiert „Dionysos Stadt“

Die Münchner Kammerspiele triumphieren mit dem Antikenprojekt von Christopher Rüping

10 Stunden! Die Aufführung beginnt um 14 Uhr und endet kurz vor Mitternacht.

Prolog

Sechs Schauspieler sind auf der Bühne. Drei Frauen, drei Männer. Einer von ihnen, Nils Kahnwald, gibt den Conférencier. Lässig in Alltagskleidung, führt Kahnwald durch die Antike. Stimmt ein, in den Parforceritt durch Tausende von Jahren, die das Zusammenleben von Göttern, Menschen, Tieren bestimmen wird. Vielleicht gibt es die Erde dann in weiteren tausend Jahren nicht mehr. Doch er, der Schauspieler ist optimistisch und weiß, am Ende werden wenige Menschen Krieg, Zerstörung, Katastrophen überleben und sich dann doch wieder über einen Sonnenaufgang freuen. Kahnwald tigert über die Bühne, fragt, wer jetzt schon weiß, ob er eher gehen wird – bitte die Hand heben.

Einer Zuschauerin, Ariane, die irgendwas mit Theater macht – bietet Kahnwald 50 Euro an, wenn sie bis zum Schluss der Aufführung bleibt. Für alle gut sichtbar wird erst das Kaugummi an die Wand gepappt, dann der Schein. Außerdem lockt der Schauspieler das Publikum auch damit, dass alle Raucher, wenn die Ampeln an den Bühnenseiten grün leuchten, auf die Bühne dürfen. Die einzige Bedingung, sie müssen sich verkleiden. Eine Plastiktüte enthält wenige Accessoires bereit: Badekappen, Tücher, orangefarbene Warnwesten. Und ja, sie machen es natürlich. Wir sind in Berlin. Die Unruhe im Zuschauerraum ist kalkuliert.

Kahnwald hat eindeutig Entertainer-Qualitäten. Liegt es an seinem rheinischen Timbre? Er ist witzig, sympathisch und doch ein Warner. Denn wir werden alle leiden, prophezeit er. Die Sitze lassen einem keine Beinfreiheit, der Rücken wird einem wehtun und erst recht die Knie. Damit wir bis zum Schluss durchhalten, empfiehlt er mithilfe einer App eine kleine Übung: Kniebeugen und die Arme hoch.

Ein guter, lockerer Einstieg, ich fühl mich gewappnet. Ein Blick nach links, nach rechts – welche Nachbarin werde ich wohl nach zehn Stunden verlieren?

30 Minuten Pause.

Erster Teil

Prometheus. Die Erfindung des Menschen

Wie fing alles an? Wie entstand unsere Zivilisation? Welche Götter schufen Mensch und Tier?

Die Göttin der Nacht, Nyx, steht auf einem Gerüst. Gottvater Zeus und Prometheus sind im Disput. Die beiden sind sich nicht grün, der eine zu aggressiv, der andere zu weich. Zeus – gespielt von Majd Feddah, ein Syrer, ein wütender Araber. Seine Dialoge auf arabisch, die von Nyx auf deutsch wiedergegeben werden und den Sound, die Melodie des Abends bestimmen. Feddah gibt mit jeder Pore den Gottvater Zeus, tänzelnd, schleimend, zornig, werbend, lässig Nüsse knackend und ausspuckend.

Prometheus, der Titan, ein empfindsamer Schönling – ihm verdanken wir nach der griechischen Mythologie unsere Zivilisation. Es geht also um Zeus, um Prometheus, um uns Menschen und um die immens wichtige Frage, wer ist eigentlich an allem schuld? An dieser Misere, die uns plagt: Benzinpreise, Ozonloch, co2. Zeus verzeiht die Trickserei Prometheus nicht. Verzeiht ihm nicht, dass er den Menschen das Feuer gegeben hat. Er nimmt „Promi“ gefangen, kettet ihn an einer Felswand im Kaukasus und fragt ihn auf arabisch, deutsch, englisch: Why, warum?

Zeus schuf den Himmel und Prometheus gibt den Menschen das Feuer, wofür? Damit sie aus diesem Himmel Bomben abwerfen? Kriege führen? Töten und vernichten? Es ist offensichtlich, Zeus verachtet uns, diese Kreaturen. Der Mensch ist in seinen Augen eine Fehlkonstruktion, auch wenn 2 Erdenmenschen auf die Bühne treten (oder ist es doch nur ein Mensch und ein Android im silbernen Gewand) und für Zivilisation, Fortschritt, und Technologie werben.

Gerüste bestimmen das Bühnenbild. Prometheus – verzweifelt schön gespielt von Benjamin Radjaipour – schwebt in einem Käfig über die Bühne, hält sich an den Gitterstäben fest. Wie einst bzw. später der mittelalterliche Mensch im Schandkorb – hockt auch Prometheus in seinem Käfig und schweigt eisern zu den Vorwürfen Zeus. Immer wieder ist er einer weißen Flüssigkeit ausgesetzt, die aus drei Schläuchen auf ihn gespritzt wird. Io – die Königstochter – wird verraten, dass es der Kot eines hundsköpfigen Adlers ist, der ihm auch jeden Tag ein Stück Leber aus dem Körper entreißt. 3000 Jahre lang wird Prometheus den Qualen, der Folter am Kaukasus ausgesetzt sein und noch mal 3000 Jahre wird es dauern bis er mit seinem Befreier Herakles den Berg verlassen wird.

Doch vorher wird Prometheus Io trösten. Ihr versprechen, dass die Menschen von ihrem Schicksal gerührt sein werden. Also beginnt Io zu erzählen, wie sie von ihrem eigenen Vater aus der Königsstadt vertrieben wurde, von Zeus verführt, später in eine Kuh verwandelt wird und jetzt von einer Bremse über die Bühne gejagt wird. Herrlich zappelig, sensibel, komisch, traurig gespielt von der großartigen Maja Beckmann. Doch ihre Geschichte rührt niemanden, beklagt sie sich. Kein Zuschauer weint oder hat zumindest feuchte Augen.

Prometheus tröstet sie auch mit einem Blick in die Zukunft: Sie wird den Bosporus überqueren, Asien erreichen, von Zeus geschwängert einen Sohn gebären und sie selbst wird die „Mutter Griechenlands“ werden. Was für Aussichten! Doch Io ist mit diesen Perspektiven nicht glücklich. Ohnehin haben Frauen in griechischen Tragödie einen schweren Stand, aber dazu später mehr. Io geht ihren Weg.

Auf allen vieren bewegen sich Schauspieler mit einem Schafsfell über die Bühne. So wenig braucht es und das Publikum kichert, giggelt und kriegt sich kaum noch ein.

Zeus ist back, fährt sein ganzes Repertoire auf, nur um von Prometheus im Käfig zu erfahren, wer ihn verraten wird. Drohend, liebend, wer sind seine Feinde? Wer wird ihn stürzen, wer ihn vernichten? Sein Monolog ist wütend, seine Drohungen wüst, seine voraussagen „realpolitische“ Apokalypse. Wenn man weiß, wo die Menschheit tausende Jahre später stehen wird, bedrückend. Zeus ist ein Machtmensch, der die Menschheit verabscheut.

Kommt einem auch bekannt vor.

„Dionysos Stadt“ fesselt, ist kurzweilig inszeniert und am Ende des ersten Teil lassen sich die zwei Menschen ins Publikum rücklings fallen. Stagediving wie beim Rockkonzert. Wir sind gefordert, der Mensch, der auf mich zukommt – ist schwer. Mir bricht fast der Rücken.

Pause.

Zweiter Teil

Troja. Der erste Krieg

Mitten auf der Bühne steht das Schlagzeug von Matze Prölloch. Das Gerüst wurde um das Schlagzeug herumgebaut, mit weißen Kacheln verkleidet, auf denen später Bilder, Filme in rasanten Schnitten projiziert werden. Man hatte uns schon vorgewarnt, der zweite Teil der Tragödie wird laut. Richtig laut.

Das Spiel beginnt, auch das Trommelspiel.

Der Schauspieler Jochen Noch betritt die Bühne, stellt sich mit dem Rücken zu uns und spricht den Text des Homer, der akribisch alle Feldherren des Troja-Krieges aufführt, alle Schiffe benennt und die Zahl der Soldaten: Achilles segelt mit 50 Schiffen über die Ägäis, Ajax folgt mit 40 Booten und Odysseus hat 12 Schiffe unter sich. Der Spitzenreiter laut Homer’s Schiffskatalog ist jedoch Agamemnon mit 100 Kriegsschiffen. Sein Bruder Menelaos befehligt 60 Boote. Die Auflistung scheint gar nicht mehr zu enden, verwirbelt sich mit den Trommelschlägen und die Geschichte wird grausam, grausamer und der Krieg wird großes Leid für die Überlebenden bringen.

Flüchtet man oder stirbt den Heldentod, diese Frage bewegt Hektor, Feldherr der Trojaner. Er stirbt, getötet von Achilles. Doch auch er wird nicht lange triumphieren können.

© Julian Baumann

Wie im griechischen Drama übernehmen auch hier die Schauspieler mehrere Rollen. In einer klassischen Tragödie treten drei Schauspieler auf, Männer sind in Frauenrollen zu sehen und vice versa und jeder übernimmt 7 bis 11 Rollen. Hektor ist Zeus ist Aigistos, ist der sich zwischen den Grenzen bewegende Syrer Majd Feddah. Herakles, erster Mensch, Helena und jetzt Achill ist Wiebke Mollenhauer. Nyx, Kassandra und Hermione (die kommt erst später) ist die wunderbare, zierliche Powerfrau Gro Swantje Kohlhof. Nicht weniger energiegeladen spielt Maja Beckmann Helena, Hekabe, Io und später Klytaimnestra.

Am Ende überleben wenige. In den Trümmern von Troja stehen sich Helena, Hekabe und Kassandra gegenüber. Helena, eine verlogene, französisch parlierende Schlampe, herrlich von Kassandra als schnurrendes Kätzchen parodiert. Überhaupt ist Kassandra eine Wucht. Die Tochter der Hekabe, ist eine Seherin. Sie sagt die Katastrophen voraus und auch, dass Agamemnon kommen und sie nehmen wird. Doch noch glaubt ihr niemand. Hekabe’s Baby wird getötet und vom Turm der Stadtmauer geworfen. Der Krieg ist grausam und fordert Menschenopfer. Und das Schicksal der Frauen? Sie werden als Kriegsbeute mitgenommen, vergewaltigt und versklavt.

„Töricht der Mensch, der Städte niederbrennt, Tempel zerstört, nur um selber unterzugehen. Kopf hoch.“

Pause. Meine Nachbarin verlässt das Theater.

Dritter Teil

Die Orestie

Auf der großen Leinwand läuft der Vorspann zur Serie: „Orestie. Verfall einer Familie.“

Eine Soap zwischen Denver Clan, Lindenstraße und House of Cards. Das ist ganz sicher der schrägste, lustigste Teil der Tragödie. Es gibt Passagen, da müssen selbst die Schauspieler sich so schwer zusammenreißen, um nicht loszuprusten. So absurd, so saukomisch kann wirklich griechische Tragödie sein, wenn das Setting, das Timing stimmt. Chapeau vor dem Team um Christopher Rüping. Doch der Reihe nach. Mehr Respekt vor der Orestie des Aischylos, bereits 459 vo. Christus dargeboten im Dionysostheater der Stadt Athen.

Die Themen: Gewalt, Tod, Gerechtigkeit? Gewalt, Tod, Gerechtigkeit!

Auf der Bühne stehen Türen im Raum. Hinter der Bar mixed Schlagzeuger Matze den Sound für die kommende Stunde. Im Bad feuert Klytaimnestra ihren Geliebten Aigisthos an. Aigistos, ein schwerfälliger, debiler Typ, den sich da Klytaimnestra für das Liebesspiel ausgesucht hat. Aber schließlich führt der Ehemann Agamemnon seit Jahren irgendwo in Asien Krieg, da wird man sich ja schon ein wenig amüsieren dürfen. Blöd nur, dass der Gatte heimkehrt und auch noch mit der attraktiven Kriegsbeute Kassandra an seiner Seite. Der Showdown beginnt. Erst Zickenkrieg, dann Gattenmord. Wer kann ihr das übelnehmen? Schließlich hat er die gemeinsame Tochter Iphigenie für ein bißchen Fahrtwind geopfert. Die rachehungrige Klytaimnestra ist wieder eine Paraderolle für Maja Beckmann. Die Sirene aus Herne, gibt dem Affen Zucker, changiert zwischen Helge Schneider und dem hohen Ton der Schauspielkunst. Doch auch sie, Mutter von Elektra und Orest kommt für ihre Tat die Strafe. Die Kids sind rachesüchtige Psychos, die ihren Cousin, den lieben Pylades an ihrer Seite wissen. Zuerst wird der Geliebte Klytaimnestra im Bad ermordet, dann die Mutter getötet. Eine schreckliche Familie im Blutrausch.

© Julian Baumann

Doch die Tat ist vollzogen und jetzt kann Hochzeit zwischen Elektra und Pylades gefeiert werden, die dennoch Orest in Inzucht verbunden ist.

Die Bühnenampel leuchtet grün, schließlich verspricht Pylades ein ausgelassenes Fest mit Ouzo und griechischem Wein. Kaum gesagt, stürmt das Publikum hoch. Doch den Ansturm bremsen Bühnenarbeiter gerade noch rechtzeitig ab. Trotzdem feiern 30 Zuschauer mit den Schauspielern die Hochzeit, rauchen, saufen all inclusive. Der Rausch gehört dazu, schließlich heißt das Stück „Dionysos Stadt“.

Nils Kahnwald gibt Orest als einen Borderliner, blutrünstig, depressiv, der sich die Kleider vom Leib reißen wird und nackt sein Elend zum Besten gibt, weil ihm und Elektra die Todesstrafe drohen und Pylades es mal wieder richten muss. Die Lage ist ernst und hoffnungslos, also sieht Orest keinen anderen Ausweg, als seinem Onkel Menelaos anzudrohen, Frau und Tochter zu ermorden, Helena und Hermione. Helena ist bereit sich zu opfern, entschwebt als Göttin an der Seite Appolons und verhindert das sinnlose Morden. Hermione wird gerettet und Orest als Ehefrau übergeben.

Ein verstörendes Happy-End. Pause.

© Julian Baumann

Viertel Teil

Was hat das mit Dionysos zu tun?

Berechtigte Frage. Sechs Schauspieler treten als das Fabelwesen Satyr auf, binden sich hölzerne Plateausandalen an die Füße und spielen Fußball. 5 Minuten, 10 Minuten, 20 Minuten. Gelegentlich schauen sie in den Himmel. Nils Kahnwald verlässt diese Rolle und philosophiert über die Weltmeisterschaft 2006, über den Himmel von Berlin, als Zinedine Zidane das Feld verlässt. (Nach einer Provokation des Italieners Materazzi und der Kopfnuss Zidanes). Das Verhalten des französischen Spielers ist das Thema im vierten Teil der Aufführung. Zidane bekommt die schwarze Karte der Melancholie. Was aber hat das mit Theater zu tun? Sport und Theater wurden im antiken Griechenland erfunden, die olympischen Spiele widmeten die Griechen ihrem Gott Zeus.

Jetzt sind wir also nach neuneinhalb Stunden beim Fußballspiel angekommen. Die Schauspieler nehmen mit dem Rücken zu uns erschöpft auf dem Fußballfeld Platz und die Sonne geht auf. So war es schon im Prolog angekündigt. Wenige Menschen haben Katastrophen und Kriege überlebt. Applaus brandet auf. Standing Ovation für eine außergewöhnliche, großartige Inszenierung. Und Ariane? Sie ist noch da und Nils Kahnwald schenkt ihr 50 Euro. So toll kann Theater sein!!!

https://www.berlinerfestspiele.de/de/theatertreffen/programm/programm-2019/programm-2019.html

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