Das Schicksal der modernen Sklavenarbeiter
Der Berlinale-Palast ist nicht nur die Abspielstätte der Wettbewerbsfilme. In den Seitenfluren finden die Interviews mit Regisseuren, Produzenten und Schauspielern statt. Auf der 4. Etage treffe ich den australischen Regisseur Rodd Rathjen mit seinem jungen Hauptdarsteller Sarm Heng, der Chakra in Rathjens Debütfilm „Buoyancy“ spielt.
In starken Bildern erzählt Rodd Rathjen von der Not der südostasiatischen Sklavenarbeiter des 21. Jahrhunderts. Er nimmt dabei die Perspektive eines 15jährigen Jungen ein. Chakra lebt mit seiner Familie in einem kambodschanischen Dorf, die immer gleichen Abläufe langweilen ihn. Ein Alltag zwischen Schule und Mitarbeit auf dem heimischen Reisfeld, zwischen Streitereien mit dem dominanten Vater und gelegentlichen Fußballspielen. Ein Freund erzählt ihm, dass man in der Stadt viel Geld in einer Fabrik verdienen könne. Eine verlockende Perspektive für Chakra, schon am nächsten Tag bricht er auf.
In den kommenden 93 Minuten erfüllt sich nichts von dem, was sich der 15jährige erhofft hat. Stattdessen beginnt ein grausamer Albtraum.
Chakra läuft zu einem Treffpunkt für die Weiterfahrt in die Stadt. Mit ihm warten zahlreiche Männer. Pickups tauchen auf, halten an und laden die Männer auf wie Vieh. Die Autobesitzer sind Menschenhändler, die ihre Landsleute nach Thailand fahren und an Schiffskapitäne verkaufen. Auf der Fahrt lernt Chakra den älteren Kea kennen. Auch er will nicht auf das Schiff, sondern in eine Fabrik. Doch ihr Widerstand läuft ins Leere.
Beiden landen auf einen alten Fischkutter. Hier führen Kapitän Rom Ran und seine beiden Gehilfen das Kommando. Sie herrschen über ihre Sklavenarbeiter, schlagen sofort zu, wenn einer schwächelt, quälen sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Chakra und Kea arbeiten mit weiteren burmesischen Sklaven in der Hitze fast rund um die Uhr. Jede Form von Auflehnung wird brutal niedergeschlagen. Einer der Sklaven versucht zu fliehen, wird wieder eingefangen. Vor allen anderen wird er gefesselt, mit schweren Gewichten belastet und über Bord geworfen. Der Schock, die blanke Angst spiegelt sich in den Gesichtern seiner Leidensgenossen. Kurze Zeit später verliert Kea den Verstand, greift den Wächter an und wird schwer bestraft. Der Kapitän ruft einen zweiten Fischkutter hinzu. Kea, zusammengeschnürt, wird an langen Seilen ins Wasser gelassen. Die Enden sind zwischen den beiden Schiffen befestigt. Dann fahren sie in entgegengesetzte Richtungen los.
Chakra verliert einen Freund und weiß, dass er nur noch eine Chance hat, um aus dieser Hölle herauszukommen. Er muss ebenso brutal werden, wie der Kapitän, wenn er überleben will. Eine grausame Lektion.
Chakra wird das Boot verlassen, er kehrt sogar zum Dorf zurück und realisiert, dass doch zu viel passiert ist, um zu bleiben.
„Buoyancy“ bedeutet Auftriebskraft, Schwimmfähigkeit. Doch für Rodd Rathjen greift diese eher technische Übersetzung aus dem Englischen nicht. Er interpretiert den Titel seines Films als Ausdruck für jemanden, der ein Überlebender ist. Einer, der noch atmet, noch nicht untergegangen ist, nicht aufgibt. Einer, wie Chakra, der deswegen auch überlebt.
Sarm Heng spielt Chakra mit großer Eindringlichkeit, vielleicht auch, weil er in seinem jungen Leben bereits einen Freund verloren hat, der auch Sklave war. Er selbst hat schon früh seine Eltern verloren, lebte mit seinen Geschwistern in Kambodscha auf der Straße. Sie fanden ein Zuhause dank der Initiative der NGO „Green Gecko“. Diese betreut ehemalige Straßenkinder, ermöglicht ihnen den Schulbesuch und eine Ausbildung. Für Sarm Heng ist völlig klar, was er werden möchte: berühmt!
Rodd Rathjen besuchte während des Castings auch Green Gecko und lernte hier Sarm kennen. Wie er auf die Geschichte der Sklavenarbeiter gekommen ist, möchte ich wissen. Rodd Rathjen lächelt und erzählt, dass ihn, als er eine Reportage in einer Zeitung las, das Thema nicht mehr losgelassen habe. Er begann über viele Jahre zu recherchieren, traf Nichtregierungsorganisationen in Kambodscha und in Thailand, die überlebende Sklavenarbeiter betreuen, und er sprach mit den früheren Arbeitern. Die Menschen in Kambodscha seien unglaublich offen und erzählten alles aus ihrem grausamen Alltag. In Thailand dagegen sei es schwieriger gewesen. Rathjen fuhr mit seinem Team zu den Häfen, um mit den Kapitänen zu reden. Doch die Recherchen vor Ort wurden zu gefährlich.
Rodd Rathjen hatte zunächst überlegt einen Dokumentarfilm zu realisieren, der die Not aufzeigt. Denn jeden Tag verlassen 60 kambodschanische Jungs ihre Heimat, um in Thailand einen Job zu finden und so ihre Eltern zu unterstützen. Stattdessen werden sie brutal ausgebeutet und nur 8 % Prozent von ihnen überleben und kehren zurück.
Im Laufe der Recherchen wurde dem Regisseur klar, dass er nie auf einem realen Fischkutter eine Dreherlaubnis bekommen würde, nie diese Verzweiflung wirklich würde zeigen können. Also entschied er sich, seine Recherchen fiktional zu verarbeiten.
Es war die richtige Entscheidung. „Buoyancy“ ist preisverdächtig.